Hullu Metso

Wenn der verrückte Auerhahn angreift

Als ich eines schönen Aprilabends im finnischen Nationalpark Syöte zur Skitour aufbreche, ahne ich nichts Böses. Es ist ein wunderbarer nordischer Frühlingsabend: Hell bis 23 Uhr, sanftes Sonnenlicht, windstill, Temperatur gerade so unter dem Gefrierpunkt und noch reichlich Schnee auf dem Waldboden. Die urwüchsigen Bergfichtenwälder im Nationalpark sind licht und immer wieder von offenen Mooren durchbrochen, von denen man eine schöne Aussicht auf die sanfte, mit Nadelwald bedeckte Hügellandschaft hat. Ich fahre einfach querfeldein durch den Wald, immer der Nase nach. Die meisten Singvögel der Taiga sind noch nicht aus ihrem Winterurlaub im Süden zurück, insofern ist es still bis auf das Knatschen meiner Skier im Schnee.

Plötzlich sehe ich aus dem Augenwinkel, wie etwas Grosses, Schwarzes aus einem Baum herabsaust und etwa 10 m entfernt im Schnee landet. Ein Auerhahn! Stolz hebt er seinen Kopf und richtet seinen Schwanzfächer auf. Dabei gibt er klackernde und schleifende Balzlaute von sich. Mit wiegenden Schritten und im Schnee schleifenden Flügeln kommt er langsam näher.

Ich bin begeistert: So nahe habe ich noch nie einen Auerhahn in freier Wildbahn gesehen!  Schnell krame ich meine Kamera aus dem Rucksack und mache ein paar Fotos. Gar nicht so leicht bei dem starken Kontrast zwischen schwarzem Vogel und weissem Schnee. Ich probiere ein wenig mit Belichtungskorrekturen herum. Ehe ich es mir versehe, hat es der Auerhahn bis auf ein paar Meter an mich heran geschafft. Er ist riesig: fast einen halben Meter hoch! Und offensichtlich hat er nicht die geringste Spur von Scheu!

 Der Vogel hält einen Moment inne, scheint verdutzt zu sein. Dann macht er wieder das klackernde Geräusch und kommt näher. Nun ist der grosse Schnabel schon fast auf einen Meter Entfernung von mir! Schnell hochkommen ist nicht, dazu sitze ich zu tief. Zum Glück taugen Skistöcke zur Auerhahnabwehr: Ich drücke sie gegen die Brust des Riesenvogels und versuche, ihn nach hinten zu schieben.

Der Auerhahn ist davon herzlich wenig beeindruckt. Eine Weile stemmt er sich dagegen, dann versucht er, die Stöcke zu umgehen und von der Seite her anzugreifen. Diesmal gelingt mit die Abwehr mir einem Ski, den ich wie eine Barriere vor ihn halte.

Der Auerhahn versucht so ziemlich alles, um meine Abwehr zu durchbrechen: Er saust nach rechts, stolziert nach links, rennt gegen meine Skier und versucht, um mich herum zu schleichen. Zum Glück scheint er dabei zu vergessen, dass er nicht nur Beine, sondern auch Flügel besitzt. Nicht weniger verrückt als der Auerhahn, drücke ich ihn zeitweise nur mit einem Skistock beiseite und schiesse mit der freien Hand ein paar Fotos. Manchmal muss ich alle Gliedmassen einsetzen, um den verrückten Vogel auf Abstand zu halten.

Hier in Finnland kursieren so einige Geschichten von ”Hullu Metso”, unter anderem auch solche, die mit einer blutigen Hand ausgegangen sind …

 Während der Balzzeit von März bis Anfang Mai erkämpfen sich die Auerhähne ihre Reviere, die sie ziemlich aggressiv gegen alle Rivalen verteidigen. Darüber hinaus gilt es auch, den Damen der Schöpfung mit einem prächtigen Balztanz zu imponieren. Zur Balzzeit erreicht der Testosteronspiegel der Auerhähne ein Vielfaches seines Nomalwertes – und das hat durchaus seine Folgen, besonders falls so ein Tier gerade keine anderen Hähne zum Prügeln oder Hennen zur Gesellschaft findet: Er wird dann buchstäblich verrückt.

In Finnland nennt man so einen verrückten Auerhahn ”hullu metso”. Solche Zeitgenossen sind derart durcheinander, dass sie einfach alles angreifen, was ihnen in die Quere kommt: Elche, Autos, Traktoren – oder Skiläufer.

Dem Auerhahn scheint das Spiel auch nach einer halben Stunde noch immer nicht zu bunt zu werden. Mein Hinterteil wird dagegen immer kälter und kälter – und es gibt sicherlich auch angenehmere Nachtlager als dieses hier. Doch wie soll ich bloss hier wegkommen?

Irgendwann, nach einer gefühlten Ewigkeit der Geistesblitz: Der Auerhahn versucht doch gar nicht, in meine Skistöcke oder Skier zu hacken! Er stemmt sich nur dagegen. Was würde also passieren, wenn ich ihn für einen Moment mal nicht mehr zurück schieben und die freiwerdenden Gliedmassen nutzen würde, um auf die Beine zu kommen?

Am Ende ist mir kalt genug, so dass ich einen Fluchtversuch wage: Ich richte mich so schnell auf wie es geht, drehe mich irgendwie um und mache mich auf steif gefrorenen Beinen davon. Der erwartete Schmerz im Bein bleibt aus, zum Glück bekomme ich auch keine 5 kg Auerhahn ins Genick.

Ein vorsichtiger Blick zurück: Der hullu metso steht immer noch am selben Platz. Er rührt sich nicht, schaut nur aufmerksam zu mir herüber. Vielleicht ist er zu überrascht, um mich anzugreifen? Oder er hat mich gar nicht als Rivalen gesehen, sondern wollte nur mit mir anbändeln?